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Hilfe für minderjährige Kinder, welche ihre Eltern pflegen – Young Carers

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psychische Belastungen

2.2 Notwendigkeit von GF für YC aus Sicht der klinischen
Psychologie

Kinder stehen psychischen Belastungen und Erkrankungen besonders hilflos gegenüber. Wie bereits in Kap. 1.2 über Piaget ausgeführt, fehlt ihnen je nach Alter die persönliche Auffassungsgabe auf Belastungen und Erkrankungen selbstregulierend zu reagieren. Erschwerend kommt die fehlende Lebenserfahrung hinzu und bei YC kann ein Elternteil krankheitsbedingt nicht die nötige Stütze sein.

F3 Affektive Störungen

F32 Depression
Kriterien ICD-10:
-Hauptsymptome: überwiegend depressive Stimmung, Interessens-
/Freudenverlust an Aktivitäten, verminderter Antrieb bzw. gesteigerte
Ermüdbarkeit
– Nebensymptome: Verlust des Selbstvertrauens bzw. Selbstwertgefühls,
unbegründete Selbstvorwürfe bzw. Schuldgefühle, wiederkehrende
Suizidgedanken, vermindertes Konzentrationsvermögen bzw.
Unschlüssigkeit

Gerade bei der Versorgung von chronisch Kranken, unheilbar Kranken oder
Kranken mit nur noch kurzer Lebensprognose bewegen sich YC fast
regelmäßig in einem Umfeld gedrückter Stimmung, Hoffnungslosigkeit,
Schuldvorwürfen und Ratlosigkeit.

F34 anhaltende affektive Störungen

F34. 1 Dystymia
Kriterien ICD-10:
Symptome vergleichbar einer Depression, erfüllen aber über einem Zeitraum
von 2 Jahren die Stärke und das Ausmaß einer Depression nicht.

Dauert die häusliche Pflege des YC mehrere Jahre an, z.B. bei
Dialysepflicht, Lähmungen nach einem Schlaganfall oder Behinderungen
nach einem Unfall eines Elternteils, kann sich schnell ein belastender
Zeitraum von mehr als 2 Jahren bis hin zu einer dauerhaften Belastung bis
ins Erwachsenenalter mit Auswirkungen auf die Berufswahl,
Familiengründung und Einkommensverhältnissen ergeben.
F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
Darunter fallen psychische Reaktionen auf eindeutig übermäßige
Belastungssituationen.
Traumatisierende Ereignisse werden unterschieden in:

Typ-I-Traumatas, kurz andauerndes einmaliges Ereignis
Typ-II-Traumatas, lang anhaltende mehrfache Ereignisse
YC bewegen sich regelmäßig Richtung Typ-II-Traumatas. Regelmäßig viele
Sorgen um den Angehörigen machen sich 54%, Mangel an Freizeit (12%),
körperliche Anstrengung (10%) und niemanden zum Reden (9%) geben
diesem Zustand Nährboden.
Typ-I-Traumatas können durch neue Diagnosen, plötzliche
Krankenhausaufenthalte, unvorhersehbare Nebenwirkungen oder
Komplikationen in der Behandlung auftreten.
Im Alltag des YC können sich diese Traumatisierungen in folgender Trias
wiederspiegeln: Plötzliche Wiedererinnerung des Traumas,
Vermeidungsverhalten, erhöhtes Erregungsniveau (Wut und Ärger).

F40 phobische Störungen, Agoraphobie, soziale Phobie, spezifische
Phobie

Bei Phobien ist die Angst auf eine bestimmte Situation, Orte, Menschen,
Tiere oder Objekte gerichtet. Der Betroffene kann genau sagen, wovor er
Angst hat. Die Angst entsteht bei Konfrontation oder dem Gedanken daran.
Aufgrund der Vielzahl an belastenden oder unkontrollierbaren Situationen im
jungen Lebensalter begegnet ein YC immer wieder den wichtigsten
Abwehrmechanismen für Phobien: Verdrängung, Verschiebung und
Vermeidung. Es gilt in konkreten Hilfsangeboten dieses unnatürliche
Ungleichgewicht durch gezielte Gegenmaßnahmen mit lösungsorientierten,
aktivierenden und achtsamkeitsbasierenden Verfahren auszugleichen.

F40.1 soziale Phobie
Kriterien ICD-10:
– Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich zu
verhalten
– Vermeidung von Situationen oder Reaktionen auf Situationen werden selbst
als übertrieben erlebt
– Angst tritt beim Sprechen/Begegnen auf
Symptome:
Zittern, Erröten, Angst vor Erbrechen, Harndrang oder Angst vor sozialen
Interaktionen.

Symptome sind auf diese Gedanken oder Situationen beschränkt
Verhaltensweisen eines Pflegebedürftigen sind krankheitsgeschuldet leider
nicht immer gesellschaftskonform. Während solche Verhaltensweisen
innerhalb des häuslichen Umfelds kaum Probleme bereiten, kann der Weg

zum Arzt, Krankenhaus oder Besuch von Freizeitaktivitäten für YC mit
negativen, abfälligen Blicken oder Kommentaren gesäumt sein. Dies kann
sich auf die Selbstsicherheit im Umgang mit unbekannten Personen
auswirken.

F40.0 Agoraphobie
Kriterien ICD-10:
– Deutliche Furcht oder Vermeidung von Menschenmengen, öffentlichen
Plätzen, alleine zu Reisen, weiten Reisen
– Vegetative Symptome (Herzklopfen, Schwitzen, Zittern)
– Symptome im Bauch und Oberkörper (Atemnot, Beklemmung,
Magenschmerzen)
– psychische Symptome (Schwindel, Benommenheit, Todesangst,
Kontrollverlust)
– allgemeine Symptome (Kribbeln, Hitze/Kälteschauer, Gefühllosigkeit)
– emotionale Belastung oder Vermeidung
– Symptome sind auf diese Gedanken oder Situationen beschränkt

Je nach Krankheit kann es immer wieder zu plötzlichen, unerwünschten
Notfällen und Ereignissen kommen, sodass ein YC als Begleiter eines
kranken Elternteils häufig auf kleine Details achtet, um im Ernstfall schnell
reagieren zu können. So kann es nötig sein, sich im Urlaub zuerst alle
Lichtschalter im Hotelzimmer zu merken, ständiges lokalisieren von
Rückzugsmöglichkeiten bei häufigen plötzlichen Schwindelanfällen oder
minutiöse Planung von Familienaktivitäten bei schwacher
Gesamtbefindlichkeit des Kranken. Dies kann sich unbewusst in
ungewöhnliche Verhaltensmuster entwickeln, die eine Agoraphobie
begünstigen könnten.

F40.2 spezifische Phobie
Kriterien ICD-10:
Deutliche Furcht oder Vermeidung bestimmter Objekte oder Situationen
– Vegetative Symptome (Herzklopfen, Schwitzen, Zittern)
– Symptome im Bauch und Oberkörper (Atemnot, Beklemmung,
Magenschmerzen)
– psychische Symptome (Schwindel, Benommenheit, Todesangst,
Kontrollverlust)
– allgemeine Symptome (Kribbeln, Hitze/Kälteschauer, Gefühllosigkeit)
– emotionale Belastung oder Vermeidung
– Symptome sind auf diese Gedanken oder Situationen beschränkt

Gerade YC, die über einen längeren Zeitraum belastenden Situationen
ausgesetzt sind, erleben häufig Situationen, in denen wiederkehrend
Gegenstände, Räume oder Orte negativ in Erinnerung gebracht werden.
Diese negativen Lebenserfahrungen oder Erinnerungen können zukünftige
spezifische Phobien begünstigen.

F41 andere Angststörungen Panikstörung, generalisierte Angststörung

F41.0 Panikstörung
Kriterien ICD-10:
– wiederholte Panikattacken, ohne erkennbaren Grund
– Abrupter Beginn, der innerhalb weniger Minuten den Höhepunkt erreicht
– Vegetative Symptome (Herzklopfen, Schwitzen, Zittern)
– Symptome im Bauch und Oberkörper (Atemnot, Beklemmung,
Magenschmerzen)
– psychische Symptome (Schwindel, Benommenheit, Todesangst,
Kontrollverlust)
– allgemeine Symptome (Kribbeln, Hitze/Kälteschauer, Gefühllosigkeit)

Bei YC mit einer Panikstörung können die Panikattacken plötzlich und
episodisch auftreten, z.B. während der Unterrichtszeit oder beim Besuch von
Freunden. Die Panik ist nicht an Situationen oder Objekten gebunden und
kann grundsätzlich zu jeder Zeit an jedem Ort auftreten. Die Attacken
erreichen innerhalb weniger Minuten ihren Höhepunkt und flachen dann
innerhalb von 20-30 Minuten bis zu 2 Stunden ab. Für YC mit wenig Freizeit
kann eine Panikattacke für 2 Stunden den kompletten Tagesablauf
durcheinanderbringen. Die Folgen wenn „besonders coole“
Klassenkameraden die Panikattacke miterlebt haben sind ungemein größer.

F41.1 generalisierte Angststörung
Kriterien ICD-10
– Vegetative Symptome (Herzklopfen, Schwitzen, Zittern)
– Symptome im Bauch und Oberkörper (Atemnot, Beklemmung,
Magenschmerzen)
– psychische Symptome (Schwindel, Benommenheit, Todesangst,
Kontrollverlust)
– allgemeine Symptome (Kribbeln, Hitze/Kälteschauer, Gefühllosigkeit)
– Anspannung (Verspannung, Ruhelosigkeit, Kloß im Hals)
– weitere (übertriebene Reaktion auf Überraschungen,
Konzentrationsschwierigkeiten)

YC empfinden diese Angst anhaltend, alltagsbeherrschend und nicht auf
bestimmte Objekte oder Situationen gerichtet. Es ist ein ständiges
Angstgefühl ohne zu wissen, vor was. YC leben bei einer generalisierten
Angststörung in ständiger Erwartungsangst mit Beklemmungsgefühlen, im
Unterricht, während Klausuren, während der Kuschelzeit mit den Eltern.
Diese ständige Angst kann auch mit Panikattacken begleitet sein.

F43 Reaktionen auf schwere Belastungen & Anpassungsstörungen

F43.0 akute Belastungsreaktion
Kriterien ICD-10:
– Außergewöhnliche physische/psychische Belastung
(Trauma, Veränderung der soz. Stellung od. Beziehungsnetzes)
– Beginnt unmittelbar nach dem Ereignis, klingt spätestens 48 Stunden später
ab. Im Allgemeinen nach 3 Tagen verschwunden
Symptome: Angst, sozialer Rückzug, Einengung der Aufmerksamkeit, Ärger,
Aggression, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, unangemessene Überaktivität,
außergewöhnliche Trauer (bei mittelgradigen/schweren Formen mit
Angstsymptomen)

Plötzliche Diagnosen der Eltern wie Krebs, Schlaganfall oder Unfälle sind
auch für lebenserfahrene Erwachsene nicht einfach. Umso belastender kann
sich dies auch für YC auswirken, wenn im entscheidenden Moment nicht die
richtigen Worte kommen. Es gibt psychologische Ersthelfer in Betrieben,
Notfallseelsorge bei Unglücksfällen. Welche Hilfe erhalten YC die zum 3. mal
innerhalb 12 Monate die Nachricht erhalten, dass ihr Vater erneut auf der
Intensivstation liegt?

F43.2 Anpassungsstörung
Kriterien ICD-10:
– Identifizierbare psychosoziale Belastung von normalen oder katastrophalem
Ausmaß, Beginn innerhalb eines Monats
– Symptome und Verhaltensstörungen, wie sie bei affektiven Störungen oder
neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen vorkommt (außer
Wahn und Halluzinationen) und Störung des Sozialverhaltens. Aber die
Kriterien einzelner Störungen werden nicht erfüllt. Art und Schwere können
variieren.
– Symptome dauern nicht länger als sechs Monate nach Ende der Belastung
oder ihrer Folgen

Nicht nur bei plötzlichen existenziellen Krankheitsdiagnosen der Eltern kann
aus einer akuten Belastungsreaktion eine Anpassungsstörung entstehen.
Der YC entzieht sich sozialen Beziehungen, erlebt Schulprobleme oder leidet
monatelang unter der den Folgen.

F43.1 posttraumatische Belastungsstörung
Kriterien ICD-10:
– Ereignis von außergewöhnlicher Belastung, dass nahezu bei jedem eine
tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde
– Verzögerte Reaktion innerhalb von 6 Monaten
Symptome: Flashbacks oder Träume, Meidung von Situationen, die an das
Trauma erinnern, teilweise oder völlige Unfähigkeit sich an einige wichtige
Kriterien des Traumas zu erinnern, Betäubungsgefühl, emotionale

Stumpfheit, Gleichgültigkeit, Schlafstörungen, Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit,
Konzentrationsstörungen

Auch, wenn hier die gängige therapeutische Meinung herrscht, dass
hierunter nur Ereignisse aus Naturkatastrophen oder Kriegen angesiedelt
werden dürften; die Krankheitsdiagnose einer potentiell tödlich verlaufenden
Krankheit eines Elternteils wird von den meisten YC als ein Existenz
bedrohender Zustand erlebt, was er zweifelsohne auch ist. Hier bedarf es der
Klärung was für einen YC katastrophaler wäre und wofür er sich entscheiden
würde: Das Überleben einer Naturkatastrophe oder das Überleben des
Elternteils.

F45 Somatoforme Störungen

F45.0 Somatisierungsstörungen
Kriterien ICD-10:
– körperliche Symptome ohne organischen Befund über mind. 2 Jahre
– mind. 3x Konsultation der Ärzte aus Angst wegen der Symptome (Wenn
Ärzte nicht erreichbar, dann Selbstmedikation)
– Hartnäckige Weigerung medizinische Feststellungen zu akzeptieren
– mind. 6 Symptome aus 2 unterschiedlichen Bereichen
Symptome:
Gastrointestinale Symptome (Durchfall, Erbrechen, Übelkeit),
Kardio-Vaskuläre Symptome (Atemlosigkeit ohne Anstrengung,
Brustschmerz), Urogenitale Symptome, Haut- und Schmerzsymptome

Während das kranke Familienmitglied zurecht mehr Aufmerksamkeit
benötigt, bedarf auch die finanzielle Situation einer angemessenen
Beachtung. Danach kommen organisatorische Dinge, um den Alltag am
Laufen zu halten. Manche gesunde YC rücken im Alltag der Eltern leider
häufig ungewollt nach hinten, bis sie sich durch körperliche Probleme die
Aufmerksamkeit der Familie zurück erkämpfen.

F8 Entwicklungsstörungen

F81 umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
Kriterien ICD-10:
– Beginn ausnahmslos im Kleinkindalter oder in der Kindheit
– Einschränkung der Entwicklung oder Verzögerung von Funktionen, die mit
der Reifung des zentralen Nervensystems verknüpft sind
– Die Teilleistungsschwäche ist nicht organisch bedingt.
Als Ursache kommt eine Beeinträchtigung kognitiver
Informationsverarbeitung in Betracht.

Bei der Beurteilung von Schulproblemen sollte immer das soziale Umfeld
mitbeachtet werden. Hierbei ist es wichtig, dass die zu beurteilende Person
(Berater, Schulpsychologe, Therapeut) auch ein entsprechendes
Bewusstsein für die Situation von YC entwickelt hat. Nur durch die
Erkennung der Ursachen der Schulprobleme können geeignete
Hilfsmaßnahmen oder Empfehlungen ausgesprochen werden, die von YC als
hilfreich empfunden werden und einen positiven Anreiz geben, sich zukünftig
wieder an beratende oder therapeutische Stellen zu begeben.

Weitere nennenswerte Aspekte:

Zur klinischen Psychologie sind noch die psychologischen Aspekte
hinzuzufügen, die nicht in der ICD-10 verankert sind:

Geringes Selbstvertrauen
Ein großer Teil der YC ist stolz darauf helfen zu dürfen (93%) und darauf,
was sie schon alles können. (ZQP Report Junge Pflegende 2017, S. 14)
Gerade aus dieser Situation heraus kommen sie immer wieder in
Situationen, mit denen Sie überfordert sind. Wenn ein YC überfordert ist, hat
er das Gefühl etwas leisten zu müssen. Ihm darf nicht das Gefühl vermittelt
werden, dass sein Verhalten Schuld an dem Dilemma ist. Die Beratung von
YC muss in diesen Fällen lösungsorientiert das Selbstvertrauen stärken und
reflektieren, was bisher schon erreicht wurde. Systemisch muss die
Krankheit als Ursache für die Überforderung besprochen werden und dass
der YC einem Teil der Auswirkungen ausgesetzt ist.